Ohnmächtig

Ich glaube, dass Schriftstellerinnen und Schriftsteller so gerne wandern gehen, weil es ein gutes Mittel gegen die dunklen Zustände ist, die einen, ob man es will oder nicht, bei der einsamen Arbeit am Schreibtisch einholen. […] Wenn man wandert, weil es einem nicht gut geht, will man sich nicht finden, oder zumindest zunächst nicht, erst einmal möchte man vor sich weglaufen. – Daniel Schreiber, Allein

Meine Mama hat mir zu meinem Geburtstag das Buch „Allein“ von Daniel Schreiber geschenkt und das obige Zitat ist eine von vielen Aussagen daraus, die ich großartig finde. (Hier eine gut überlegte Buchempfehlung am Rande.) Ich werde oft gefragt, warum ich mich für das Trailrunning entschieden habe. Nun, das ist eine Antwort von vielen. Weil ich dabei vor mir und meinen Gedanken weglaufen kann, mich in die Natur zurückziehen will und mir die Berge eine Freiheit vermitteln, die ich nirgends sonst so schön und wild vorfinde. Daniel Schreiber beschreibt es so: „Wenn man nichts anderes tut, als einen Fuß vor den anderen zu setzen, scheint sich das Denken neue Bahnen zu suchen. Körper, Geist und Welt kommen anders als sonst zusammen, nehmen neue Unterhaltungen auf. Es entsteht ein ganz eigener Denkrhythmus, der vom Gehen selbst, der Landschaft und dem Atem bestimmt wird.“ Ich weiß, dass viele Menschen die Monotonie des Laufens nicht verstehen, diese sogar als Grund nennen, warum der Sport ihnen nichts gibt. Für mich hingegen ist diese Form der immer wiederkehrenden Bewegungsabfolge das, was ich brauche, um mich in meine Gedanken fallen lassen zu können. Ich wage mich nicht gerne aus meiner Komfortzone heraus, etwas, woran ich versuche zu arbeiten. Die (Sport-)Welt hat weit mehr zu bieten, als das Laufen. Aber mich aus meiner liebgewonnenen Gewohnheit des Laufens herauszubewegen, um etwas Neues zu lernen, bedeutet auch, dass ich mich auf neue Herausforderungen einlassen muss und meine Konzentration nicht auf meinen Gedanken, sondern auf der Erlernung einer neuen Bewegung liegt. Ich kann den Sport in diesen Momenten nicht als Rückzugsort nutzen und kann Sorgen und Ideen nicht verarbeiten. Ein Ausgleich, der mir an anderer Stelle fehlt und mich stresst.

In Zeiten wie diesen und einer Kriegssituation vor der Haustür, sind meine Gedanken niemals still. Wir alle müssen uns mit Ängsten und Sorgen auseinandersetzen, die wir uns niemals auszumalen getraut haben. Niemand kann aktuell sagen, wie die nächsten Wochen aussehen werden, niemand kann sagen, wohin dieser „Konflikt“ gehen wird, welche Opfer er fordern- und was er anstoßen wird und bereits angestoßen hat. Was derzeit auf der Welt geschieht, ist für unsere Generation beispiellos und eine negative Meldung jagt die andere. Der Krieg ist wohl derzeit die Dominanteste, aber weitaus nicht die einzige Entwicklung, die uns Sorgen bereiten sollte. Das Coronavirus existiert nach wie vor und noch nie waren die Infektionszahlen so hoch wie im Moment. Der Klimawandel schreitet ungehindert voran und all das Geld, was aktuell in Aufrüstung und Militär gesteckt wird, könnte in Punkto Umwelt so viel Gutes bewirken. Der Amazonas spielt eine wichtige Rolle in der Regulierung des Weltklimas, denn er speichert große Mengen an Kohlenstoff. Der Mensch beutet dieses Gebiet seit Jahren schamlos aus und holzt es für die eigenen Bedürfnisse ab. Bald wird der Amazonas laut Forscherinnen und Forschern an einem Kipppunkt sein, von dem er sich nicht erholen wird. Schlimme Dürren und Überschwemmungen wären die Folge und die Menschen hätten sich eine Krise mehr aufgehalst.*

Es schockiert mich immer wieder, wenn ich Nachrichten wie diese lese. Die Ignoranz des Menschen und dessen Fähigkeit, katastrophale Szenarien zu verdrängen, sind Paradedisziplinen unserer Spezies. Ich möchte mich hierbei gar nicht rausnehmen, führe ich doch ein Leben in Saus und Braus, habe ein Dach über dem Kopf, kann meine Meinung frei äußern und meinen Leidenschaften und Freuden nachgehen. Dass ich mich jetzt mit Krieg, Leid und Angst auseinandersetzen muss, versetzt mich in eine Art Ohnmacht. Ich fühle mich machtlos, suche nach starken Meinungen und Menschen, die mir Zuversicht vermitteln. Ich möchte hören, dass alles gut wird, damit ich mein Leben in Frieden weiterführen kann, damit ich weiterhin laufen kann, weiterhin schreiben kann und es mir gut geht, so, wie bisher. Ich möchte keine Verantwortung übernehmen, ich möchte einfach, dass all diese Grausamkeiten aufhören und spende Geld, damit ich irgendwas getan habe und mir einreden kann, dass mein Anteil an Solidarität hiermit erschöpft ist. Das ist genau die Ignoranz, von der ich oben sprach und die mich anwidert. Mit all diesen Sorgen und dieser Wut auf mich selbst kann ich nicht umgehen, ich verkopfe jeden Gedanke und lese obendrauf neue Meldungen, die von Tot, von Flüchtlingsströmungen und von Zerstörung berichten.

Das einzige, was mich aus dieser Spirale befreit ist das Laufen, ist der Rückzugsort in eine Welt aus einer stupiden Monotonie. Ich möchte, wie es Daniel Schreiber wunderbar sagt, dabei nicht mich selbst finden, sondern einfach nur weglaufen. Ich möchte weglaufen vor der Angst und vor der Hilflosigkeit. Ich möchte mir selbst das Gefühl vermitteln, irgendetwas Sinnvolles zu tun, indem ich wenigstens meinen Trainingsplan abarbeite und meinem Körper etwas Gutes tue. Was bleibt einem auch anderes übrig? Man verfolgt weiter das eigene Leben, die eigenen Ziele, die eigenen Hobbys und hofft darauf, dass „die da oben“ sich endlich wieder einkriegen und eine Lösung finden. Ich bewundere den Tatendrang, der in so vielen wunderbaren Menschen verborgen liegt. Die Menschen in der Ukraine, die füreinander da sind in der dunkelsten Stunde und ihr Land verteidigen. Die Menschen an den Grenzen, die sich um diejenigen kümmern, die von einen Tag auf den anderen alles verloren haben. Die Menschen in Russland, die auf die Straßen gehen und für Frieden demonstrieren, mit dem Wissen um eine mögliche Haftstrafe. Die Menschen, die ihr Dach und ihr Hab und Gut teilen, ohne Frage und ohne Zweifel. Sie alle sollten uns ein Vorbild sein, für mich sind sie es und ihr Handeln ein Aufruf, auch Teil einer Gemeinschaft zu sein, die zusammenhält.

Daniel Schreiber schreibt: „Unser Unglücklichsein wird heute häufiger als ein individuelles Scheitern definiert, obwohl es durchaus eine adäquate Reaktion auf die Welt und unsere Gesellschaft sein kann.“ All das, was gerade auf der Welt geschieht macht mich unglücklich. Es raubt mir Energie, es raubt mir meine Kreativität, es raubt mir die Lust auf irrelevante Dinge. Meine Gefühle sind eine adäquate Reaktion auf die Welt und sie sind völlig okay. Es wird, hoffentlich, auch wieder bessere Zeiten geben und bis es so weit ist, ist der Rückzug in eigene Wohlfühlzonen ein guter Weg des Umgangs. Das und Hilfsbereitschaft und der Glaube an das Gute im Menschen.

*Mehr dazu gibt es, unter anderem, hier zu lesen. Auch ich habe meine Infos aus diesem Artikel.