Zwischenbilanz

Es ist Herbst und er zeigt sich von seiner schönsten Seite. Blauer Himmel, klare Luft, sonnige Tage und dieser einmalige Herbstduft von Äpfeln, Spätsonne und gemähtem Gras. Ich liebe diese Jahreszeit, dennoch löst sie im Moment auch ein Gefühl der Schwere in mir aus. Schon wieder neigt sich eine Saison dem Ende zu und die ersten Lebkuchen liegen in den Supermärkten. Der Sommer ist vorbei und das Jahr vergeht so schnell, dass keine Zeit zum Verweilen bleibt.

Mit dem nahenden Herbstanfang nehmen auch die vorgenommenen Ziele kontinuierlich ab. Die meisten Rennen sind gelaufen und selbst das große Jahres-Highlight, die UTMB-Woche, ist schon wieder Vergangenheit, Teil der nächstjährlichen Planung. Das hat auf der einen Seite etwas sehr beruhigendes, auf der anderen Seite schnürt sich mir ein wenig die Kehle zu.

 „Der Sommer ist vorbei und das Jahr vergeht so schnell, dass keine Zeit zum
Verweilen bleibt.“

Herbst ist eigentlich meine liebste Jahreszeit. Nicht nur wegen der wunderschönen Natur, sondern auch aufgrund der gelebten Geschwindigkeit. Alle werden langsamer, halten ein und es macht sich eine allgemeine Nostalgie breit. Ich mag das Herbstwetter, den Mix aus Wärme und Frische. Noch viel mehr schätze ich jedoch, dass alle einen Gang runterschalten, inklusive mir selbst. Der Großteil des Jahres ist geschafft, aber das bringt auch eine gewisse Bilanz mit sich: Hat man die eigenen Ziele erreicht? War es im Schnitt ein gutes Jahr? Hat man sich weiterentwickelt oder empfindet eher das Gefühl des Stillstands? Bei mir ist es in diesem Jahr vielleicht ein sowohl als auch.

Ein Jahr der Selbstfindung

Auf der einen Seite war das Jahr bisher sehr bewegt. Ich bin nach Chamonix gezogen, weg aus der Großstadt und rein in die französischen Alpen. Für mich war es ein notwendiger Schritt, um mich als Läuferin weiterzuentwickeln. Oder viel mehr wollte ich herausfinden, wohin mich diese Entscheidung sportlich bringen kann. Trotz meinem neuen Wohnort und den perfekten Trainingsbedingungen dort, war es widererwarten eine sehr holprige Saison. In naiver Gutgläubigkeit war ich mir sicher, dass mit den Bergen vor der Haustür eine direkte Leistungssteigerung einhergeht. Der dadurch entstehende Leistungsdruck war enorm – und das Brett vor dem Kopf erst recht. Hinzu kamen die äußeren Bedingungen.

Das Gefühl des Umbruchs war immer präsent, mein Umfeld zu sehr von emotionalen auf und ab’s geprägt, um Ruhe und Langfristigkeit in die sportliche Entwicklung zu bringen. Das Gegenteil trat ein, meine Leistung stagnierte. Ich hatte den Fehler begangen, meine letztjährigen Erfahrungen als Normalität zu bewerten und dabei vergessen, dass es einen großen Unterschied zwischen dem eigenen Zuhause und einem Trainingslager auf Zeit gibt. Im letzten Jahr hatte ich nur den Sommer in Frankreich verbracht. Jetzt war ich gekommen, um zu bleiben.

„Im letzten Jahr hatte ich nur den Sommer in Frankreich verbracht. Jetzt war ich gekommen, um zu bleiben.“

Ankommen

Auf der anderen Seite hat mich das Jahr in vielerlei Hinsicht stärker gemacht und mich als Kimi wachsen lassen. Ich bin oft gescheitert und konnte nicht nur einmal von mir gesteckte Ziele nicht erreicht. Dennoch habe ich weitergemacht, auch wenn die Zweifel an meiner Leistung und an mir immer präsent waren – und teilweise noch sind. Ich bin umgezogen und versuche, mich in meinem neuen Zuhause zurechtzufinden. Ich habe mich verliebt und mich den Herausforderungen einer Fernbeziehung gestellt. Ich habe gelernt, mich jemandem zu öffnen und mir nahestehende Personen wieder verstärkt in mein Leben zu lassen. Die Einzelkämpferin auf den Trails hat ihre Daseinsberechtigung, solange sie nicht an Überhand gewinnt. Ich bin an Misserfolgen gewachsen und empfinde mich heute als reifer und angekommener. Vielleicht war es kein besonders erfolgreiches sportliches Jahr, aber doch ein Jahr voller Erkenntnisse und der persönlichen Weiterentwicklung. Und auf lange Sicht betrachtet ist Letzteres doch ein bisschen wichtiger.

„Die Einzelkämpferin auf den Trails hat ihre Daseinsberechtigung, solange sie nicht an Überhand gewinnt.“

Wenn ich mir diese vorläufige Jahresbilanz vor Augen halte, liest sich das meiste davon gar nicht so schlecht. Ich sitze in einem Café in München und genieße die Herbstsonne. Obwohl ich die Berge liebe und schätze, brauche ich hin und wieder die Flucht in die Großstadt und damit den Abstand zur Outdoorwelt. Hier läuft niemand mit Laufrucksack durch die Gegend und Begriffe wie „UTMB“ sind unbekannt. Ich genieße es, hier zu sitzen und mich meinen Gedanken hinzugeben, umgeben von einer großen anonymen Masse uns bemerke, wie ich mich auf die kommenden Wochen freue. Auch wenn sich meine Zwischenbilanz sehr abschließend liest, hat das Jahr noch ein paar Monate. Ich sehe ihnen mit gemischten Gefühlen entgegen, es werden bewegte Wochen werden. Aber ich freue mich darauf.

Der Herbst lullt mich mit seiner schönen Klarheit ein. Ein paar Blätter liegen schon auf den Straßen und das Tageslicht wirkt diffus. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und beobachte die Menschen, die vor meinem Tisch auf und ab gehen. Alle in ihren eigenen Welten, alle ihren eigenen Gedanken folgend, alle ihre eigenen Bilanzen ziehend. Ich spüre, dass sich eine Zufriedenheit in mir ausbreitet. Nein, es war bei Weitem kein einfaches Jahr und wenn ich auf die kommenden Wochen schaue, wird mir ein wenig flau in der Magengegend. Nichtsdestotrotz vertraue ich auf meine Entscheidungen und mein Bauchgefühl und lasse die Herbstsonne in mein Herz.

„Vielleicht war es kein besonders erfolgreiches sportliches Jahr, aber doch ein Jahr voller Erkenntnisse und der persönlichen Weiterentwicklung. Und auf lange Sicht betrachtet ist Letzteres doch ein bisschen wichtiger.“