Sind wir egoistisch?

Als Leistungssportlerin ist es dieser Vorwurf, den ich immer wieder höre. Du bist egoistisch. Seit Jahren, mal mehr mal weniger vorwurfsvoll, aber doch immer versehen mit einem Stich, der sich in meinem Herzen eingräbt und mich mein Leben und meine Entscheidungen hinterfragen lässt. Seitdem ich laufe, begleiten mich diese Stimmen, und ich spreche hierbei noch nicht einmal von der Zeit als Leistungssportlerin. Ich habe mich bereits weit vorher zumeist für das Laufen entschieden. Es erlaubte mir, abzuschalten und ich genoss die Ruhe vor dem Außen. Es war meine Mittagspause, mein Feierabend und mein Wochenende. Damals noch befreit vom Leistungsdruck, aber doch begleitet von mentalem Durchhaltevermögen und einer mir innewohnenden Unruhe. Ich lief, um meinen Gedanken Raum zu geben. Ich lief, um einen freien Kopf zu bekommen. Ich lief vor manch verkopfter Sorge davon. Kurzum: Ich lief für mich und es bereitete mir Freude. Mehr als ein Glas Wein, eine Flasche Bier oder eine durchgetanzte Nacht es je gekonnt hätten.

„Ein Stich ins Herz, der mich meine Entscheidungen hinterfragen lässt.“

Meine Hoffnung auf Verständnis

Ich weiß, dass meine Sportliebe nicht immer auf Verständnis stieß. Das ist wohl bis heute so, obwohl die Tatsache, dass das Laufen inzwischen zu einem Job geworden ist, manchmal ein wenig mehr zu Akzeptanz führt. Was bleibt, ist die wiederkehrende Not, mich und mein Training zu erklären. Wenn nicht sogar Rechtfertigung. Im ersten Moment ist da zwar meist Interesse und Neugierde für eine Welt, die vielen Menschen sehr fern erscheint. Aber bisher habe ich doch oft die gleiche Erfahrung gemacht: Irgendwann empfinden viele Menschen das, was ich mache, als zu fremd und damit mein Training als Freizeitbeschäftigung und mir ist das egal. Solange ich davon nichts mitbekomme. Sport kann Menschen vereinen, wie nichts anderes auf der Welt, aber er kann auch erschreckend einsam sein. Selbst dann, wenn man Teil eines Teams ist. Trainingseinheiten kosten Zeit. Es ist das Laufen an sich, aber hinzu kommt so viel mehr als das. Sport aktiv zu betreiben, setzt Struktur voraus, im besten Fall eine immer wiederkehrende Routine. Einen Ablauf, der das Training in gutbekannte Rhythmen bettet und es dadurch einfach(er) macht, die harte körperliche Arbeit zu absolvieren. Immer wieder, Tag für Tag, zweimal täglich, über Jahre hinweg. Das ist der Egoismus, es ist der hartnäckige Versuch, standhaft zu bleiben.

„Sport kann Menschen vereinen, wie nichts anderes auf der Welt, aber er kann auch
erschreckend einsam sein.“

Es mag nach Jammern auf hohem Niveau klingen, aber so ist es nicht. Ich liebe, was ich tue, aber der Preis für eine Sportler-Karriere ist manchmal hoch. Sie meint Verzicht. Man verzichtet auf Treffen mit Freunden für ein Training am Abend, auf einen ausgedehnten Discoabend, um genügend Schlaf zu bekommen, auf gemütliche Morgenstunden, weil ein langer Lauf ansteht oder einen normalen Wochenrhythmus, denn ein 9 to 5 Job sieht anders aus. Am Wochenende wird ebenso trainiert, wie an den anderen Wochentagen und Urlaub meint, dass er fürs Laufen gemacht sein sollte. Zumindest in der laufenden Vorbereitung, der Hauptsaison und im Grundlagenaufbau. Was 99% des Jahres ausmacht. Spontanität gibt es nicht oft, denn die Saison setzt Klammern, Wettkampfkalender und Trainingsplan
erledigen ihr Übriges. Eine Geburtstagseinladung auf ein Hüttenwochenende kurz vor einem wichtigen Wettkampf wird zur Belastungsprobe für enge Freundschaften. Die Entscheidung für den Geburtstag kostet womöglich nicht nur letzte wertvolle Einheiten, sondern im schlimmsten Fall eine gute Platzierung.
Die Entscheidung für das Training führt oftmals in einen Streit, denn (mal wieder) hat das Laufen Vorrang und die Freundschaft muss hintenanstehen. Man ist egoistisch, aber ist das wirklich so?

Du läufst? Ja, ich arbeite

Arbeit ist ein großer Teil unseres Lebens. Eine „normale“ Arbeitswoche beginnt im Normalfall morgens und endet abends, sie dauert von Montag bis Freitag und nimmt bis zu 40 Stunden ein. Mal mehr, mal weniger. Ausnahmen sind Schichtdienste, Teilzeitjobs, Freelancing und was auch immer sonst in der modernen Arbeitswelt existiert. Das Modell der normalen Arbeitswoche wird momentan neu gedacht und die einstige 5-Tages-Woche in vielen Unternehmen auf 4 Arbeitstage gekürzt. Arbeit wird auf den oder die Arbeitende angepasst, nicht, wie bisher üblich, andersherum. Der Bereich „Leistungssport“ ist nun wieder ein anderer. Er ermöglicht eine eingeschränkte Freiheit in der Wochengestaltung bei gleichzeitig mehr arbeitsfreier Zeit. Frühstück, stretching, Warm Up, Training, duschen, essen, Erholung, Physiotherapie, Training, essen, stretching, Schlaf. Hinzu kommt, sollte es einen solchen geben, der Job, den man neben dem Profisport außerdem ausübt. Für ein einigermaßen angenehmes Leben in München Stadt muss ich kreativ in der Geldbeschaffung sein. Nur laufen allein reicht leider nicht. Permanente Existenzangst kombiniert mit hohem Leistungsdruck machen das Sportler-Dasein nicht weniger komplex oder anspruchsvoll. Außerdem mehrere Auslandsaufenthalte pro Jahr, Wettkämpfe, Trainingslager, Team Camps und dergleichen. Ein voller Terminkalender, der in seiner Daseinsberechtigung
manchmal zu kurz kommt.

„Ein voller Terminkalender, der in seiner Daseinsberechtigung manchmal zu kurz kommt.“

Ich möchte nicht undankbar klingen. Mein Umfeld ist verständnisvoll und hier und da voller Bewunderung, wenn das Thema Laufen aufkommt. Sie wissen um die Energie, die ich seit Jahren investiere, außerdem Zeit und Durchhaltevermögen. All das wird gesehen und ich fühle mich oftmals verstanden und unterstützt. Gleichzeitig muss ich immer wieder erklären, warum ich nicht mal eben nachmittags zu Besuch kommen kann, da eine zweite Einheit auf dem Plan steht. Kann man die denn nicht ausfallen lassen? Ist die wirklich so wichtig? Keine Ahnung, ist sie?

Ist es noch Disziplin oder schon Egoismus?

Ein Leben als Profisportler oder Profisportlerin setzt Hingabe und Leidenschaft voraus. Es meint, dass man bereit ist alles zu geben, immer wieder aufzustehen und weiterzumachen. Denn Tatsache ist: Am Ende kommen diejenigen weiter, die Grenzen (und manchmal Verabredungen) übergehen und die Besten der Besten werden. Und es stimmt, Egoismus ist Teil dessen. Jedoch stelle ich mir seit einigen Tagen die Frage, inwieweit hierbei von Egoismus die Rede sein kann, oder ob es sich in diesem Zusammenhang nicht vielmehr um Disziplin handelt. Einen kompromisslosen Einsatz, denn ohne geht es nicht. Ich bemerke immer wieder und im Laufe der Zeit immer mehr, dass mich diese ständige Zerrissenheit mürbe macht. Diese Frage, ob ich mich wirklich egoistisch verhalte und wenn ja, ob ich
das verändern kann, ohne Leistungseinbuße in Kauf zu nehmen. Gibt es einen Mittelweg? Kann ich meine Routinen, meinen Trainingsalltag und meine Ziele beibehalten, und gleichzeitig gute Freundin, Tochter und Teil der arbeitenden Bevölkerung sein? Kann ein einzelner Mensch auf mehreren Ebenen
100% liefern? Über Tage und Jahre hinweg? Und gibt es dazwischen noch Zeit für mich allein?

„Kann ein einzelner Mensch auf mehreren Ebenen 100% liefern, ohne sich selbst
dabei aus den Augen zu verlieren?“

Ich denke, ein großes Problem hierbei ist, dass ich immer allem und jedem gerecht werden möchte. Ich bin Perfektionistin, was einen hohen Anspruch an mich selbst einschließt und ich bin an sich kein schlechter Mensch. Ich möchte meinen Lieben das Gefühl geben, dass ich sie und ihre Wünsche respektiere, gleichzeitig möchte ich aber auch dasselbe für mich einfordern dürfen. Es ist immer wieder eine Gradwanderung, eine Kompromisssuche in Dauerschleife und ein regelmäßiges
Rückbesinnen darauf, was wirklich zählt. Sowohl im hier und jetzt als auch später im Leben. Denn ich werde nicht mein Leben lang laufen können. Der Sport wird über kurz oder lang in die zweite Reihe rücken müssen und einem anderen Lebenskonstrukt Platz machen. Ich bin im Moment Teil der Trailrunning-Evolution, irgendwann aber, werde ich nur noch von außen zuschauen und ein Teil von mir freut sich auf diese passive Rolle. Aber bis es so weit ist, werde ich aktiv bleiben und teils die Egoistin spielen, wenn es das Training fordert. Dennoch appelliere ich in diesem Zusammenhang einmal an das außen: Würdet ihr in anderen Berufen auch so streng urteilen? Ich glaube nicht.