Trailsport im Wandel

DNF. Drei kleine Buchstaben, die für uns Sportlerinnen und Sportler wohl eine der schmerzhaftesten Erfahrungen beschreiben. Did not finish, zu Deutsch „nicht beendet“ oder „nicht abgeschlossen“ drückt aus, dass eine Läuferin oder ein Läufer ein Rennen vor Erreichen der Ziellinie abbricht. Kein Erleichterungsgefühl auf den letzten Kilometern, keine Jubelschreie im Zielbereich, kein Stolz im Nachhinein, kein Schulterklopfer vom Coach, keine Pluspunkte für das UTMB-Index Konto. Letzteres ist für das gebrochene Läuferherz hoffentlich noch am wenigsten wichtig, aber im Kopf ist es dennoch.

Entscheidet man sich, aus welchen Gründen auch immer, für den Rennabbruch, wartet eine schmerzhafte Verarbeitung in den Wochen danach. Ich selbst habe diese Erfahrung nun schon dreimal in meinen sechs aktiven Jahren machen müssen. Vielsagend ist dabei, dass ich diese Entscheidungen nie wegen einer Verletzung getroffen habe. Es war nie ein körperliches „Versagen“, sondern immer ein mentales. Mein letztes DNF ist gerade einmal wenige Tage her. Beim OCC war nach 42 von 56 Kilometern Schluss für mich. Das 50 Kilometer Finale der UTMB-World Series, nicht nur das mitunter wichtigste Rennen unseres Sports, sondern auch meiner Saison.

Ein DNF tut immer weh, aber in diesem Fall traf es mich ganz besonders hart. All die Zeit, all die Energie, all der Aufwand, all die Träume – umsonst? Für ein unfertiges Rennen? Für die Zweifel und Gedanken im Kopf, die mich seither verfolgen? Für die Frage, ob mich das Trailrunning wirklich und wahrhaftig erfüllt? Ich möchte darüber sprechen, weil ich in den Tagen nach meiner Entscheidung doch mit Kritik konfrontiert wurde. Meine mentale Blockade kam bei einigen Menschen nicht gut an, oder wurde hier und da nicht als ausreichende Begründung für ein DNF bewertet. „Mir fehle der Kampfgeist“ hieß es beispielsweise. „Mir sei durch meine privilegierte Situation als gesponserte Athletin nicht mehr bewusst, was anderen Teilnehmer:innen der Start beim UTMB bedeute.“ Das hat mich doch ziemlich überrascht. Warum dieser Gegenwind, auch wenn hier klar betont werden muss, dass der Zuspruch und die Unterstützung weit überwogen haben. Aber es ist doch immer so, dass die negativen Kommentare länger im Gedächtnis bleiben. Schade!

„Es ist leider nicht mehr nur ein schönes Abenteuer in den Bergen. Es ist Leistungssport.“

Umso wichtiger ist es mir, in meinem Fall, aber auch ganz generell, Stellung zu beziehen. Denn so sehr Trailrunning auch ein Community-Sport ist, und hoffentlich auch weiterhin bleibt, gibt es doch einen Unterschied zwischen professionellen Läuferinnen und Läufern, und all jenen, die das Trailrunning lieben und sich damit identifizieren. In anderen Sportarten funktioniert diese Unterscheidung doch auch, warum also (noch) nicht bei uns?

Das Pro und Contra einer Nische

Ich habe mir vor ein paar Tagen die YouTube-Serie „The Crux“ von National Geographic angeschaut. Eine Serie übers Klettern und ein sehr schöner, lehrreicher Einblick in das Innerste von Athletinnen und Athleten in der Auseinandersetzung mit ihrem Sport, ihrer Leidenschaft. Was mir besonders hängen geblieben ist, sind die Aussagen einiger Sportler gleich zu Beginn der ersten Episode, die ich hier frei übersetzen und zusammenfassen möchte: „Kletterinnen und Kletterer werden als freundliche Menschen wahrgenommen. Als Community, die zusammenhält. Das ist schön und ich bin gerne Teil davon. Meine Konkurrentinnen und Konkurrenten sind Freunde für mich. Wir stehen uns sehr nah. Es wäre nicht dasselbe ohne sie.“ Wenn ich mir das so anhöre, finde ich direkt Parallelen zum Trailrunning, zu meinen Gefühlen und unserer Community. Zusammenhalt, Teamgeist, Wertschätzung, Support, Kameradschaft. Alles Werte, die wir, und auch ich, leben und die den Sport meiner Meinung nach ausmachen.

Aber nun wird es kompliziert, denn unser Sport wächst und verändert sich. Ebenso wie der Klettersport. In der Serie heißt es weiter: „Es geht etwas vor sich im Klettern. Es verändert sich von einer Nische hin zu einem Sport, in den mehr Geld investiert wird und die Aufmerksamkeit auf aktive Sportlerinnen und Sportler zunimmt. Wenn wir an der Wand sind, sind wir keine Freunde. Der Unterschied im Wettkampf ist der Wunsch, der oder die Beste zu sein!“ Das hier ist keine Kletterkolumne, aber ich finde die Parallelen sehr stimmig und interessant. Sie haben sich in mein Gedächtnis gebrannt, weil ich aktuell in ebenjener Auseinandersetzung mit mir selbst bin. Bis wohin geht Community und Teamzusammengehörigkeit und ab wann muss man sich als Profiläuferin oder -Läufer davon abkapseln, um weiterhin vorne mitzulaufen?

Die zerrissene Rolle der Elite

Ich bemerke, dass mir dieser Text sehr schwerfällt. Ich möchte mit meinen Worten nicht arrogant oder überheblich klingen. Es liegt mir fern, mich über andere zu stellen, indem ich mich als professionelle Sportlerin definiere und andere nicht. Dass die Linie zwischen Elite und Nicht-Elite hauchdünn ist und alles sehr greifbar erscheint, ist eine Besonderheit in unserem Sport, die es weitestgehend zu bewahren gilt. Eine Barriere gibt es nicht und alle sind willkommen. Ergo: die Community wächst. Dieses Wachstum, auch in den Eliterängen, führt nun zu einer Professionalisierung des Sports. Zunehmende mediale Aufmerksamkeit, mehr Sponsoren, höhere Boni, zahlreiche Wettkämpfe weltweit, steigende Investitionen, höhere Leistungsdichte, ansteigender Druck, mehr Talent, mehr Marketing. Größer, wichtiger, exklusiver und eben nicht mehr so familiär.

Doch eines ist gleichgeblieben: noch immer gibt es nur ein Podium, eine Siegerin und einen Sieger und jene, die das erwünschte Tagesziel nicht erreichen. Ein Kuchen, zu viele Gabeln, zahlreiche Hände, die leer ausgehen. Das klingt unglaublich trocken und hart, aber darum geht es. Um die Entromantisierung eines Nischensports, der keiner mehr ist. Und darum, Professionalität im Trailsport zu akzeptieren und das Bild der großen glücklichen Familie hier und da aufzulockern. Wir sind Menschen, die ihre Fehler haben. Menschen, die mit Niederlagen ebenso umgehen müssen, wie mit Erfolgen. Lernen, zu scheitern. Ist es nicht genau das, was uns an Sport fasziniert?  Idole, die immer weitermachen? Immer wieder aufstehen? Durchhaltevermögen zeigen? In einem Moment beflügelt, im anderen am Boden? Für meine Begriffe schon.

Von Helden und Professionalität

Die Kirsche auf der geldigen Torte im Trailsport ist der UTMB – der Ultratrail du Mont Blanc. Der größte Event unseres Sports, unser Olympia, und eine Versammlung an Talent, Sponsoren und Trailrunning-Liebhabern, die unvergleichlich ist. Ich selbst liebe und hasse die UTMB-Woche gleichermaßen. Es ist eine Ehre, Teil davon sein zu dürfen, und gleichzeitig eine mentale Überforderung und Zerreißprobe. Für viele ist es ein einzigartiges Erlebnis, und auch für mich ist es das, jedes Jahr aufs Neue. Und doch spüre ich in keiner anderen Zeit des Jahres einen solchen Druck auf mir, wie in diesen Tagen in Chamonix. Es geht darum, gegen die Besten der Besten anzutreten. Es geht darum, sich zu beweisen und zu behaupten. Und man weiß, die Fallhöhe ist hoch, denn der Einsatz ist nicht weniger als alles oder nichts.

Alle Läuferinnen und Läufer teilen einige wichtige Emotionen im Startbereich, ganz gleich, ob Elite oder nicht. Es herrscht Vorfreude, Aufregung, Neugierde, Ehrgeiz, Nervenkitzel und Spaß an dem, was wir lieben. Das Laufen am Berg. Und das eint die Elite mit der großen Masse, die mit uns am Start steht, die für uns an der Strecke ist, die uns anfeuert und auffängt. Wir lieben es, wir teilen es, wir leiden gemeinsam. Aber es gibt dennoch einen großen Unterschied. Auf den Profis liegt in diesen Stunden der mediale Fokus, auf uns ruhen die Augen der Sponsoren und Zuschauer, auf uns richten sich die Kameras der Live-Berichterstattung, unsere Leistung wird gnadenlos bewertet und auseinandergenommen. Es geht um Erfolg und unseren Wunsch, nach den Sternen zu greifen. Und wir selbst sind unsere strengsten Kritiker. Es ist leider nicht mehr nur ein schönes Abenteuer in den Bergen. Es ist Leistungssport und damit (m)ein Beruf.

 Mein DNF, mein Fazit

Beim OCC 2024, entschied ich mich dafür, nach 42 Kilometern auszusteigen. In diesem Moment fühlte sich die Entscheidung richtig an, in den Stunden danach hasste ich mich dafür. Ich hatte mir an diesem Tag zu viel Druck aufgebaut, mit dem mein Kopf in der Härte des Rennens an diesem Tag nicht umgehen konnte. Ich wollte Top Ten, nicht weniger, und ich ging das Risiko ein, alles zu bekommen, oder eben nichts. Dass ich an diesem Tag ausgestiegen bin und den besonderen Zielbogen in Chamonix nicht durchlaufen durfte, quält mich bis heute. Als professionelle Athletin hatte ich ein Ziel vor Augen, das ich aufgegeben habe, als es unerreichbar wurde. Ich wollte nicht einfach finishen, ich wollte performen. Würde ich noch einmal so entscheiden, das weiß ich nicht. Da kommen wohl einige Faktoren zusammen: Aufregung, Stress, selbstgemachter Druck, Vergleich, Unsicherheit. Vielleicht hätte ich an einem besseren Tag mehr Kampfgeist gehabt und wäre weitergelaufen. So oder so, dieses DNF ist ein wichtiges Learning für meinen Dickkopf, und es ist außerdem eine schöne Erkenntnis.

Die Tatsache, dass ich Leistungssportlerin bin, macht mich stolz. Sie fordert mich, bringt mich manchmal an meine Grenzen. Körperlich, aber vor allem mental. Sie lässt mich nicht los und setzt mich einem, teils unaushaltbarem, Druck aus. Aber sie lässt mich auch weitermachen, lässt mich wachsen. Sie hat mich zu der gemacht, die ich heute bin. Natürlich finde auch ich es oft schade, dass sich unser Sport verändert und dass er seinen familiären Kern verliert. Ich sehe die Nachteile daran. Teils über Board geworfenen Werte, den zunehmenden Druck auf Athletinnen und Athleten, die sich und ihre Körper zu sehr fordern, überrannte Natur zu Wettkampfzeiten, und vieles mehr.

Dennoch ist es gut, dass unser Sport professioneller wird. Es gibt regelmäßige Dopingkontrollen, freiwillige Athletenorganisationen, die sich für den Sport und Athletenrechte einsetzen. Es gibt die Gleichheit zwischen Mann und Frau, Weiterentwicklungen, neue Konzepte und Kollaborationen zwischen Brands, Events und Athleten. Außerdem Klimapakete und innovative Produkte. Trailrunning wächst und damit der Druck, der auf uns Akteuren liegt. Dass das zu einem DNF führen kann, nehme ich in Kauf. Für mich ist das keine Schwäche, oder gar ein nicht vorhandener Kampfgeist. Es bedeutet für mich, dass ich inmitten der Eliteränge, umgeben von den Besten der Besten, daran glaube, mehr erreichen zu können als ‚nur‘ ein Finish.