
20 Mai Das ist doch typisch!
„Das ist doch der typische Trailrunner. Die langen Haare, der wilde Bart, und dann noch die Tattoos…“. Dieser Satz war Teil eines Gesprächs, das ich vor ein paar Wochen führte. Wir hatten uns über Trailrunning und dessen Boom unterhalten und waren irgendwann in oberflächliche Sphären abgedriftet. Als dann diese Aussage kam, ärgerte ich mich über den Verlauf unserer Unterhaltung. Es gibt fraglos Typen, die auffallen und dies gekonnt forcieren. „Bunte Vögel“, die mit ihrem Erscheinungsbild hervorstechen und die Blicke gezielt auf sich lenken (wollen). Und ja, dieser Typ „wilder Naturbusche“ ist bestimmt ein Charakter, der gut in unseren Sport passt und den es dort gibt. Dennoch habe ich ein Problem mit dem Wort typisch und dieser oberflächlichen Einordnung eines Menschen.
Oberflächlichkeiten statt Hineinversetzen
Schubladen-Denken ist eine menschliche Paradedisziplin. Social-Media sind dafür wie gemacht und es verwundert nicht, dass heutzutage in erster Linie auf den ersten Eindruck vertraut wird. Für mehr bleibt, so scheint es, in unserer schnelllebigen Blase keine Zeit mehr. Ein Profil wird besucht, es folgt ein schneller Blick auf die Fotos und je nach Zuspruch wird gefolgt, oder eben nicht. Tinder, ähnliches Prinzip. Jedoch passiert diese oberflächliche Einordnung von Menschen nicht nur online, sondern auch in der wahren Welt. Genau genommen passierte sie in eben diesem Moment und in eben diesem Gespräch. Man sieht eine Person, beurteilt ihr Äußeres und ordnet sie einer persönlich- oder gesellschaftlich erstellten Schublade zu. Ohne Grund, ohne nennenswerte Berechtigung, einfach so.
Typ Trailrunning?
Ich habe sehr lange über diesen Satz „das ist doch der typische Trailrunner…“ und dessen Bedeutung nachgedacht. Was mich am meisten daran stört ist das Wort „typisch“. Ich frage mich, was genau einen typischen Trailrunner oder eine typische Trailrunnerin per Definition ausmacht, wenn doch ebendieser Sport von seinen unterschiedlichen Charakteren und besonderen Persönlichkeiten lebt. Mir wird das immer wieder bewusst, wenn ich Zeit mit meinem Team verbringe und diese wunderbare Ansammlung an einzigartigen und unterschiedlichen Personen erlebe. Weder haben wir alle zerzaustes Haar, einen wuchernden Bart oder Tattoos von Kopf bis Fuß. (Ich habe es immerhin mit einem Piercing versucht, mein Ohr hatte was dagegen.) Noch sind wir eine Ansammlung von jungen Wilden, die im Busch lebt und draufgängerisch nach Abenteuern sucht. Im Gegenteil sogar und deswegen ist das Wort „typisch“ hier fehl am Platz und Schubladen-Denken etwas, was wir alle ablegen sollten.
Manchmal (immer) lohnt sich ein Blick hinter die Fassade
Jeder Mensch ist einzigartig und verbirgt so vieles, was auf den ersten Blick nicht erkennbar ist. Was maßen wir uns an, wenn wir urteilen. Wir sollten wieder wegkommen von dieser oberflächlichen Einordnung in Äußerlichkeiten und den Menschen hinter der Fassade suchen. Jede Person hat ihre eigene Geschichte zu erzählen, ihre eigenen Päckchen zu tragen und Narben aus abgeschlossenen Prozessen. Wenn wir diese Persönlichkeit wieder mehr anerkennen, akzeptieren wir unser Gegenüber und entkommen der scheinbaren Fassade. Von mir wird oft gesagt ich sei arrogant, das stimmt aber nicht. Alles was hinter meinem, oft harten Blick steckt, ist Unsicherheit. Mir selbst und anderen gegenüber. Ein gutes Beispiel dafür ist meine Miene an jeder Startlinie in den Minuten vor dem Startschuss. Ich stehe dort, mein Blick strahlt Härte aus. Nach außen gebe ich die Starke, in mir drinnen wüten Aufregung, Sorge und Leistungsdruck, aufgebauscht aus einer immensen Erwartungshaltung an mich selbst.
Der emotionale Fallstrick im Leistungssport
Aus gegebenem Anlass möchte ich ein bisschen tiefer in diese Schubladen-Thematik einsteigen und ein sensibles Bild dieses Sports aufzeichnen. Denn während ich diesen Text schreibe, sitze ich in Innsbruck. Es ist der Tag nach dem IATF, ein Event, das von seiner familiären Atmosphäre lebt und an dessen Emotionalität ich zerbrochen bin. Zum vierten Mal stand ich am Start der 25 Kilometer und ich hatte viel vor. Nicht weniger als den Sieg, wenn ich ehrlich bin und somit war der eigen gemachte Druck sehr hoch. Dass ich zwei Wochen zuvor beim MIUT auf Madeira gewinnen konnte, hatte die Erwartung hochgeschraubt. Ich stand da, im Startbereich, umringt von mehr oder weniger bekannten Gesichtern, die von mir erwarteten, was ich erwartete. Nämlich alles.
Stunden nach meinem Zieleinlauf habe ich mir Fotos vom Start zeigen lassen. Ich sah dort eine junge Frau, die mit ihren Gedanken ganz woanders war, die unter dem selbst gemachten Druck zerbrach und die unter allen Umständen beweisen wollte, dass Madeira keine Ausnahme gewesen war und dass sie zurecht Teil eines so starken Teams ist. Ich sah in mein Gesicht und konnte keine Freude darauf erkennen. Da war nur Anspannung, Nervosität und Unwohlsein. Nach außen spielte ich die Starke, die Läuferin Kimi. Ich mimte mich selbstsicher und zuversichtlich und versuchte auf meine Beine zu vertrauen, auf mein Training, auf meine Disziplin und meinen Ehrgeiz. Aber in mir drinnen arbeiteten verschiedene Emotionen und Gefühle und verdrängten die Konzentration auf die anstehende Anstrengung. Mein verkopftes Ich stellte mir ein Bein und ich stolperte darüber.
„Mein verkopftes Ich stellte mir ein Bein und ich stolperte darüber“
Am Abend saß ich bei der Siegerehrung. Viele meiner Teamkolleginnen und Teamkollegen wurden geehrt, alle hatten ihr Bestes gegeben und bekamen nun die Belohnung für ihre Leistung. Ich vergrub mein Gesicht in meiner Kapuze und hatten einen riesigen Kloß im Hals. Ein Kloß aus Wut und Angst, der mir immer wieder Tränen in die Augen trieb, kaum wurde ich angesprochen und mit mitfühlenden Augen angeschaut. Ich versuchte mich zu freuen, ich versuchte Zuversicht auszustrahlen, mir meinen Frust nicht anmerken zu lassen. Ich scheiterte kläglich.
Die wahre Schönheit unseres Sports
Ist das nun also typisch Trailrunnerin? Eine Frau voller Selbstzweifel, voller Unsicherheit und noch dazu mit einer Figur, die so gar nicht typisch Läuferin ist, wie ich mir habe sagen lassen? Und lässt sich ein Charakter von außen lesen, wenn er von Mauern verborgen ist? Lässt sich ein Mensch von außen beurteilen, nur weil er einen Schein wahren möchte und lieber Härte vorgibt, als Schwäche zu zeigen? Trailrunning bedeutet vieles. Es ist ein Sport, der mit Leidenschaft gelebt wird, es ist ein Lebensgefühl, das sich seinesgleichen sucht. Nicht Jede und nicht Jeder wird sich darin wiederfinden und nicht für alle wird dieser Sport eine Erfüllung sein. Trailrunning ist kein muss und es vereint individuelle Persönlichkeiten, verschiedenste Körperformen und Charaktere. Es ist ebenso Bühne für bunte Vögel, die sich dort präsentieren wollen, als auch ein Rückzugsort für diejenigen, die in der Ruhe der Natur auf der Suche nach sich selbst sind.
Sport sollte vieles sein, jedoch keinen Typ Mensch als Voraussetzung haben und genauso wenig sollten wir uns anmaßen, uns eine Meinung aufgrund von Äußerlichkeiten zu bilden. Es passiert leider viel zu oft, dass der erste Eindruck als Aushängeschild genutzt wird. Auch ich lasse mich hin und wieder dazu verleiten, schätze dünnere Frauen stärker ein als mich, urteile über Schönheitsideale, die nicht meinen entsprechen und habe Vorurteile, die unfair sind und die ich meistens revidieren muss. Oft lohnt es sich, den Blick aus der eigenen beschränkten Wahrnehmung zu öffnen und sich auf das Gegenüber einzulassen. Das wäre so gar nicht typisch Mensch, aber was heißt das schon?
Danke lieber Tom Kieslich für die schönen und ehrlichen Fotos.